Aus EM-Flaggen werden Taschen
Nachhaltig und sozial - unsere EM-Flaggen werden recyelt
29. November 2024 – Marion Meier
Könnt Ihr Euch noch an unser Orakel zur EM erinnern? Im Sommer hat unser S-Bahn-Orakel neun Spiele vorausgesagt – drei davon richtig. Einen Teil der Länderflaggen, die in den Toren hingen, haben wir dem sozialen Modeprojekt vagabunt in Dulsberg gespendet. Dort wurden sie zu bunten Taschen verarbeitet. Wer und was hinter vagabunt steckt, das verraten Euch Suzanne Darouche und Isgard Klein in diesem Interview.
Kreativität als Weg aus schwierigen Lebenslagen – das Modeprojekt „vagabunt“
Suzanne: Suzanne ist Modedesignerin und arbeitet bei vagabunt als kreative Leitung. Sie unterstützt und lehrt den Jugendlichen das Entwerfen, Schneidern und Nähen von Kleidungsstücken und Accessoires.
Isgard: Isgard ist Sozialarbeiterin und arbeitet bei vagabunt als Projektkoordinatorin. Sie erledigt vor allem administrative Themen. In ihrem Hauptjob hat Isgard auch jugendliche Klient:innen.
Was ist vagabunt?
Suzanne: „Vagabunt ist ein einzigartiges Modeprojekt für Jugendliche, die in herausfordernden sozialen Situationen aufwachsen. Ziel des Projektes ist es, den Jugendlichen einen geschützten Raum zu bieten, um Kreativität zu entfalten, Selbstbewusstsein zu stärken und eine Perspektive für den beruflichen Weg zu entwickeln.“
Isgard: „Hier existiert ein großer pädagogischer Ansatz. Viele der Jugendlichen tun sich mit unserem Schulsystem schwer – hier bei uns können sie sich aber verwirklichen. Wir bieten jungen Menschen die Chance, in einem wertschätzenden Umfeld ihre Talente zu entdecken und neue Perspektiven zu entwickeln. Vagabunt ist ein buntes und inspirierendes Beispiel für gelungene Jugendarbeit und bietet den Teilnehmenden einen ersten Schritt ins Hilfssystem.“
Wer kann an dem Projekt teilnehmen?
Isgard: „Junge Menschen, die bereits im Träger eingebunden sind, können bei vagabunt mitwirken. Es sind also Kids, die unter anderem bereits in einer Notunterkunft von Basis und Woge untergebracht sind.“
Suzanne: „Wir haben Teilnehmende im Alter von 13 bis 21 Jahren. Die Kerngruppe liegt allerdings bei 15-17 Jahren. Im Laufe des Jahres sind ungefähr 30 Jugendliche hier bei uns aktiv. Sie arbeiten in der Werkstatt an eigenen Designs, lernen verschiedene handwerkliche Techniken und können so erste Schritte in Richtung Selbstständigkeit und Arbeitsalltag machen.“
Wann wurde vagabunt gegründet und von wem?
Suzanne: „Offiziell wurde das Projekt am 1. Dezember 2016 gegründet. Gestartet mit den ersten Jugendlichen sind wir dann im Januar 2017. Vagabunt wurde von Basis und Woge gegründet und hieß am Anfang noch anders: „People Hamburg“.
Anfangs war es ein reines Nähprojekt. Als erkennbar war, dass das Projekt gut lief, haben wir einen Antrag bei der Sozialbehörde gestellt und aus dem Nähprojekt ein Modeprojekt gemacht.“
Wie funktioniert das Projekt?
Suzanne: „Das Projekt ist bewusst praxisorientiert: Die Jugendlichen sind die Designer:innen. Sie schneiden Stoffe und entwerfen und nähen eigene Kleidungsstücke. Wir haben aber auch einzelne Jugendliche, die lieber als Hausmeister:innen und Textildesigner:innen arbeiten.
Die Jugendlichen suchen sich je nach Fähigkeiten und Interessen bei vagabunt die für sie richtige Rolle aus. Wir erstellen pro Jahr eine neue Kollektion, die wir dann in unserem Onlineshop verkaufen. Dabei geht es uns nicht ums Geldverdienen – die Einnahmen fließen direkt in das Projekt zurück. Alle Jugendlichen bekommen einen Obolus für ihre Arbeit.“
Für die Teilnahme bei vagabunt gibt es eine Arbeitsvereinbarung, und die Jugendlichen werden intensiv betreut. Neuankömmlinge absolvieren zunächst einen „Nähmaschinenführerschein“, indem sie ein kleines Projekt fertigstellen, das sie dann behalten dürfen.
Aktuell sind die Abschlussprojekte die Taschen aus den recycelten Flaggen vom S-Bahn-Orakel zur EM. Der Alltag ist klar strukturiert, mit festen Arbeitszeiten, Pausen und Reflexionsrunden, um den Einstieg in den Arbeitsalltag zu erleichtern.
Woher kommen die Materialien, mit denen die Jugendlichen arbeiten?
Isgard: „Die Stoffe und Materialien stammen meist aus Spenden, beispielsweise von Designer:innen, die in den Ruhestand gehen oder ihr Atelier aufgeben, von Unternehmen – wie die S-Bahn Hamburg – oder aus Überproduktionen von Firmen.“
Was habt Ihr aus den EM-Fahnen unseres S-Bahn Orakels gemacht?
Suzanne: „Wir haben nach einem Schnittmuster gesucht, das hochwertig aussieht und einfach in der Verarbeitung ist. Dabei ist meine Kollegin Clarissa auf die Idee der kleinen Reisverschluss-Taschen gekommen.
Man kann sie super als Kosmetikbeutel, Federmäppchen oder zum Aufbewahren von anderen kleineren Gegenständen nutzen. Die größte Herausforderung bei den Taschen ist für die Jugendlichen, das vagabunt-Logo richtig anzunähen. Jede Tasche ist ein Unikat.“
Was waren bisherige Highlights von vagabunt?
Suzanne: „Jede Fotostrecke, die wir für unsere Kollektion machen, ist das Highlight des Jahres: Die Produktion ist sehr aufwändig und wir arbeiten mit Agenturen, Fotografen und Set-Designern zusammen. Die machen das alles einmal im Jahr Pro Bono für uns.
Wir verlosen zehn dieser Taschen in der Woche vor Nikolaus auf unserem Instagram-Kanal @sbahnhamburg.
Und ein großes Highlight hatten wir dieses Jahr Ende November: Am 28. November haben wir unsere erste Modenschau hier in Hamburg veranstaltet. Die Jugendlichen haben 15 festliche Kleider designt und genäht, die auf einem Laufsteg präsentiert wurden. Dazu haben wir all unsere Förderer und Sponsoren eingeladen.“
Wie kann man „vagabunt“ unterstützen?
Suzanne: „Unterstützung ist jederzeit willkommen – sei es in Form von Stoffspenden, Sachmitteln oder aber finanziellen Beiträgen. Stoff- und Sachspenden erhalten wir bereits regelmäßig. Auf unserer Website gibt es einen Link zu „Better Place“, über den man uns Geldspenden zukommen lassen kann. Wir wären aber auch für ein vagabunt-Auto zu haben (Suzanne lacht). Wir freuen uns auf jeden Fall über jede Hilfe.“
Wie sieht der Alltag bei vagabunt aus?
Isgard: „Suzanne und ich sehen uns jede zweite Woche zu Dienstbesprechungen und auch, um schwerere Fälle der Jugendlichen zu besprechen. Ich selbst bin immer nur einen Tag in der Woche da und arbeite in meinem zweiten Job selbst mit Klient:innen – unter anderem aus dem Projekt.“
Suzanne: „Ich verbringe die meiste Zeit in der Werkstatt mit den Jugendlichen. Um 15:00 Uhr startet der Tag für die Jugendlichen und jeder bekommt eine Aufgabe. Wir haben einen verbindlichen Schichtplan, in den sich die Jugendlichen eintragen.
Da wir nur vier Nähplätze zur Verfügung haben, ist die Anzahl der Jugendlichen, die vor Ort sein können, pro Tag begrenzt. Insgesamt haben wir Platz für maximal sechs Jugendliche pro Tag. Nach etwa eineinhalb Stunden gibt es eine 30-minütige Pause zum Essen und um aufs Handy zu schauen. Am Ende des Tages haben wir noch 15 Minuten Zeit für eine gemeinsame Reflexion und für Feedback.“
Vielen Dank für das Gespräch und die Einblicke!
Interview und Text: Marieke Weller
Fotos: Marieke Weller